
Stress ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Unseren Vorfahren aus grauer Vorzeit sicherte er das Überleben. Schließlich gab es für die Menschen schon immer schwierige und anstrengende Situationen, und nicht wenige davon waren schwerer zu ertragen als die Belastungen von heute. Die Verzweiflung bei der erfolglosen Suche nach etwas Essbarem dürfte auf der Skala negativer Gefühle jedenfalls weiter oben liegen als die Sorge, bei einem Vortrag vor großem Publikum zu versagen. Und vor einem angreifenden Säbelzahntiger davonzulaufen, schlägt allgemeinem Konsens zufolge den Stresspegel aufgrund von Hetze zur morgendlichen Besprechung.
Höchstleistungen Tag für Tag zehren an den Reserven
Wir ziehen zwar heute nicht mehr als Jäger und Sammler durch die Wildnis, doch tragen wir auch in Zeiten der modernen Leistungsgesellschaft das damalige Verhalten immer noch in uns. Schließlich sollen wir zu jeder Zeit wach, reaktionsschnell und bereit zu Kampf oder Flucht sein.
Als Kind einer nomadisch veranlagten Familie habe ich schon früh das Reisen gelernt. Und auch heute noch mache ich gerne Ausflüge, um den großen Herausforderungen der Welt zu entfliehen. Ich zeige dem Stress einfach mal die Rote Karte und packe meine Yogamatte ein. Ob zum Wochenendtrip nach Rom oder ins wilde Texas – meine Yogamatte habe ich immer im Gepäck.
Mehr Beweglichkeit und neue Perspektiven
Yoga begleitet mich schon seit vielen Jahren und hat sich in meinem Leben ordentlich breit gemacht. Ich habe damit angefangen, da war von Yogareisen in ferne Länder oder chicen Yogaoutfits noch gar keine Rede.
So zähle ich mich heute zu den wanderlustigen Nomaden, die Yoga zwar ernst nehmen, aber dennoch kein Problem damit haben, es aus der ursprünglichen Form zu heben. Und hätten nicht schon vor mir andere Yogis diesen Gedanken in die Welt getragen, wäre der globale Siegeszug von Adho Muka Svanasana (Hund mit dem Gesicht nach unten) ganz sicher schon im südindischen Mysore zu Ende gewesen. Es gibt einfach nichts Schöneres, als auf einer Hotelterrasse früh morgens die Sonne zu begrüßen, den Hund auf den Grund des Bodensees hinabschauen zu lassen oder einen Baum auf der Düne einer Nordseeinsel emporwachsen zu lassen.
Tief einzuatmen, während die Gischt des Meeres geräuschvoll aufspritzt und sich die Wellen an den schroffen Felsen brechen. Einfach mal nichts denken und beim Üben der Haltung des Zweiten Kriegers, Wind und Wasser auf dem Gesicht zu spüren. Je wilder das Meer dabei tobt, desto besser gefällt es mir. Seit einiger Zeit kam noch die beruhigende Gewissheit hinzu, dass kreative Gedanken und körperliche Energie sofort zu mir zurückkehren, sobald ich nur am Meer bin und die Yogamatte ausrolle. Nichts entspannt meinen inneren Steinzeitmenschen so unmittelbar und gründlich.
Yoga ist ein unkomplizierter Reisebegleiter
Egal wohin die Reise geht, Yoga ist ein unschlagbar unkomplizierter Reisebegleiter und begleitet mich mittlerweile überhall hin. Mein gesamtes Gepäck könnte verloren gehen, und alles was ich zum täglichen Üben brauche, wäre immer noch da: Mein Körper, mein Atem und mein aufmerksames Bewusstsein. Reisen und Yoga gehören für mich unzertrennlich zusammen. Schöne Berghütten mit Weitsicht, endlose Sandstrände, grellweiße Schneelandschaften oder der Schatten mattgrüner Olivenbäume, all das wäre doch nur halb so gut genutzt, würde der tägliche Flow ausschließlich im heimischen Wohnzimmer gespürt oder im Fitnessstudio geübt werden.
Panta rhei, alles fließt?
Die Yogapraxis ist wie eine Pflanze, die keimt und wächst. Sie hat ein Eigenleben und ist nur partiell kontrollierbar. So wäre es auch ein Trugschluss zu glauben, der reisende Yogi käme ganz ohne Widerstände aus. Das mobile Yoga schreibt seine eigene Geschichte, die an so manchen Urlaubstagen sicher das Zeug zum Bestseller gehabt hätte. Und wie das mit Bestsellern nun mal so ist, haben sie oft ein unerwartetes Ende.
Das können schon mal die Kirchenglocken in der Toskana sein, deren umwerfender Klang jeden Versuch einer Balanceübung torpediert. Auch plötzlich einsetzende Gewitter oder verwehte Sandkörner in den Augen können einem ohne Vorwarnung den Atem rauben. Nicht zu unterschätzen sind auch die eindringlichen Gebetsrufe der Muezzins, die den herabschauenden Hund gefügig machen wollen und immer wieder auf die Knie zwingen. Aber oftmals sind es einfach nur Hotelgäste oder Passanten, die allzu gern meine Yogapraxis kommentieren. Meistens ungebeten und lautstark. Auch wenn es für einen Yogi erst richtig spannend wird, wenn er bei seiner Yogaübung Widerstand spürt, ziehe ich mich dann lieber auf mein Hotelzimmer zurück. Denn eine handtuchgroße freie Fläche für die Yogamatte weist es eigentlich immer auf. Hier macht sich dann eine auch dünne, faltbare Travelmat bezahlt, die minimalistisch ins kleinste Handgepäck passt, aber dann jederzeit für ihren großen Auftritt bereit ist.
Yoga auf Reisen ist ideal um Ballast abzuwerfen
Auch beim Outfit ist man gegenüber anderen Sportreisenden klar im Vorteil. Yoga macht es einem wirklich leicht. Zwischen Pyjama und Bikini ist fast alles geeignet. Es muss nur bequem sein. Yoga auf Reisen ist also perfekt für Leute, die Überflüssiges gerne weglassen und einfach Ballast abwerfen wollen.
Ob zu Hause oder unterwegs: Die eigentliche Herauforderung beim Yoga liegt weder an der Umgebung oder an den Übungen selbst, sondern vielmehr in der Überwindung, auch in schwierigen Zeiten die Yogamatte auszurollen, sich aufzuraffen und die Übungen zu machen. Eben dann, wenn man es am meisten braucht. Man lernt dabei, dass man plötzlich wieder sehr spannende Dinge wahrnimmt, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt und wie schön sie sind: den eigenen Atem zum Beispiel. Oder einfach das Gefühl, dass man mehr ist als ein Kopf. Denn Stress macht starr. Körperlich wie geistig.
Also packe ich immer wieder meine Yogamatte ein und nehme mir die Freiheit, mich nach Herzenslust zu verbiegen. Dann fühle ich mich lebendig und bin in meinem Element zu Hause. Ganz gleich wo ich gerade bin.
Auch erschienen: http://seinsart-magazin.de/nicht-ohne-meine-yogamatte/
Bild: Pixabay/evitaochel